Echtzeit Forschung

Wie sich das heimische Gesundheitssystem abbilden lässt und was damit möglich wird, erklärte der Komplexitätsforscher Stefan Thurner APA-Science. Um etwas derart Komplexes abzubilden, brauche es natürlich einige Zutaten.

 

Neben viel methodischem Wissen  vor allem Daten. "Die wichtigste Zutat ist, zu wissen, wie krank die einzelnen Leute sind und welche Krankheiten sie gleichzeitig haben", so der Präsident des Complexity Science Hub Vienna (CSH) und Professor an der Medizinischen Universität Wien. Hat ein Patient etwa Diabetes, gesellen sich mit der Zeit leider meistens andere Erkrankungen dazu, die Forscher sprechen von Komorbidität. "Wenn man die Komorbidität einer Person oder einer ganzen Nation kennt, lassen sich Gesundheitsverläufe gut vorhersagen, sowie optimale personalisierte Präventionsmaßnahmen und Therapien errechnen." Das konnten Stefan Thurner und sein Team bereits in Studien zeigen.

 

Ein weiterer Punkt ist, herauszufinden, wie sich Menschen im österreichischen Gesundheitssystem bewegen. Diese Bewegungspfade lassen sich anhand der Arzt- und Krankenhausbesuche ableiten. Die große Herausforderung ist, "dass der Computer lernen muss, wie Patienten Entscheidungen treffen". In der Simulation müssen also die unzähligen virtuellen Patienten (Agenten) so auf eine Diagnose reagieren, wie sie das auch im realen Leben täten. Gleiches gilt für die Handlungen von Ärzten, Pflegepersonal oder Gesundheitspolitikern. Bei all dem gehe es nicht darum, das Handeln einzelner, echter Bürger zu überprüfen, sondern mit Millionen Agenten, die sich realistisch verhalten, verschiedene Szenarien durchzuspielen. Auf diese Weise ließe sich wissenschaftlich fundiert Licht auch in eine Reihe von Fragen des sehr emotional besetzen Gebiets bringen. Das beginne schon bei der reinen Darstellung des Status quo und der Frage: "Wie ist eigentlich die Versorgungsdichte im Land?"Die Erreichbarkeit von Qualitätsversorgung steht etwa im Zentrum eines großen Forschungsprojekts, das Thurner und Kollegen bei der EU eingereicht haben. In Pilotstudien gebe es schon Hinweise darauf, dass sich selbst in urbanen Räumen drastische Ungleichheiten ergeben können.

 

Das sind superspannende Fragen", sagte der Komplexitätsforscher, der vor allem im Sinn hat, aufzuzeigen, wie sich der Zugang zur Versorgung ändert, wenn Akteure wie Ärzte oder gar Krankenhäuser aus dem System herausgenommen werden. Ein Szenario, das meist diskutiert wird, wenn Jungärzte nicht mehr in ausreichender Zahl gewillt sind, Landarzt zu werden. Die systemische Frage in diesem Zusammenhang ist, was die Patienten tun, wenn beispielsweise ein Arzt seine Praxis schließt und kein Nachfolger unmittelbar seine Stelle einnimmt. "Diese Patienten gehen zu anderen Ärzten. Sie tun das anhand bestimmter Entscheidungsregeln, wie Entfernung, Vertrauen und Wissen über diesen Arzt, usw.", erklärte Thurner. Ist der aber bereits an der Kapazitätsgrenze, schickt er die Leute wieder weiter. "Irgendwann gibt es einen Punkt, an dem, wie bei der Herbergssuche von Bethlehem, jeder die neu kommenden Patienten dauernd weiter schickt. Das ist der Punkt, an dem das Gesundheitssystem einen Infarkt erlebt", so Thurner.Die Wissenschafter konnten bereits zeigen, dass sich diese Situation nicht unbedingt lange vorher ankündigen muss, sondern sprunghaft eintritt. Komplexitätsforscher sprechen dann vom Erreichen eines "Phasenübergangs", der zwei Phasen trennt, jene der normalen Versorgung, und die des kollabierten Systems.

 

Ein Ziel ist demnach, nach Indikatoren zu suchen, die eine solche Entwicklung vorzeitig anzeigen. Es soll mehr oder weniger ein Frühwarnsystem für den System-Kollaps entwickelt werden.In diesem Modell könne man dann ganz gezielt beispielsweise regionale Veränderungen des Gesundheitswesens durchspielen, indem man etwa Ärzte oder andere Einrichtungen gezielt aus dem System herausnimmt. So ließe sich herausfinden, was es braucht, damit solche Phasenübergänge nicht erreicht werden, und die heimische Versorgung auch zukünftig gesichert bleibt. "Dass das funktioniert, haben wir mit unseren Arbeiten zum Finanzsystem bewiesen", das grundsätzlich nach "sehr ähnlichen" Mechanismen, wenn auch in völlig anderem Maßstab ablaufe, betonte Thurner.Neben dem quasi "technischen Teil" des Gesundheitssystems, treibt die Forscher die Vision an, zusätzlich die Information über die Krankheitsverläufe mit einzubauen. Thurner: "Dann haben wir wirklich eine Simulation, in die man die Medizin hineinbringen kann." Bekommen die Agenten nämlich auch noch die im Zeitverlauf typischen Krankheiten, ließen sich Präventionsmaßnahmen (sofern solche existieren) viel besser planen, ihr gesundheitsökonomischer Nutzen besser berechnen und mit einem "Preisschild" darstellen. Weiters könnte spezifisch aufgezeigt werden, wo akuter medizinischer Forschungsbedarf besteht, um Präventionsmaßnahmen zu optimieren.Um den Simulator dann tatsächlich für verschiedenste Akteure im Gesundheitssystem nutzbar zu machen, muss dieser für Nicht-Komplexitätsforscher verständlich gebaut werden.

 

 

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